Riga

Riga war zu Wagners Zeit eine florierende Hafenstadt mit 60.000 Einwohnern. Seit Ende des 18. Jhr. war es die Hauptstadt des russischen Gouvernements Livland, dennoch war die offizielle Amtssprache Deutsch und die Stadt von der deutschsprachigen Oberschicht geprägt. Die Innen- und Altstadt sind bis heute gut erhalten.

Von 1764 bis 1769 war Johann Gottfried Herder an der Domschule in Riga tätig gewesen (Denkmal in der Nähe des Domplatzes). Bereits hier setzte er sich mit den später weiter ausgearbeiteten Themen Nationalcharakter und Genie auseinander. Seine Abreise mit dem Schiff aus Riga setzt Rüdiger Safranski als "Romantischen Anfang" an den Beginn seines Werks über die Romantik (Rüdiger Safranski: Romantik: Eine deutsche Affäre). Wagner gelangt im Sommer 1837 nach Riga: "Um die Mitte August 1837 segelte Richard Wagner nach mehrtägiger Seefahrt in den breiten Dünastrom ein und sah in wachsender Nähe die Türme der längs dem Ufer gelagerten alten Hansastadt Riga vor sich aufsteigen, deren regem bürgerlichen Gemeingeist einst Herder die Erweckung und Nährung seiner eigentümlichen Ansichten über bürgerliche und Staatsverhältnisse verdankte." (Glasenapp)

Riga
   
Das Theater in Riga  
   
   

Wagner verbrachte in Riga fast zwei Jahre als Musikdirektor. Den Anstellungsvertrag für das Rigaer Stadttheater, gelegen in der altstädter Königstraße im ehemals Vietinghoffschen Hause (heute Riharda Vāgnera iela 4), unterzeichnete er am 15. Juni 1837, und am 21. August trat er sein Amt an. "Nach meinen schlimmen Erfahrungen im Betreff der Eigenschaften der kleineren deutschen Theater", erinnerte er sich in seiner Autobiographie und spielte damit auf seine Zeit als Musikdirektor in Magdeburg und Königsberg an, "wirkte zunächst die Beschaffenheit der dort neu begründeten Theaterzustände angenehm beruhigend. Eine Anzahl vermögender Theaterfreunde und reicher Kaufleute hatte eine Gesellschaft gegründet, um einer gewünschten guten Theaterdirektion eine solide Grundlage zu geben." Tatsächlich fungierte das deutschsprachige Theater als kulturelles Zentrum, hier gastierten in der ersten Hälfte des 19. Jhr. auch Franz Liszt, Clara Schumann, Anton Rubinstein und Wilhelmine Schröder-Devrient. Heute beherbergt das Haus unter anderem einen Konzertsaal für Kammermusik (der ursprüngliche Innenausbau und die Einrichtung sind nicht erhalten).

Der bis zum Neubau des Theaters 1863 genutzte Theaterbau machte trotz seiner geringen Größe bleibenden Eindruck auf Wagner. "In Wahrheit war der […] Saal des alten Rigaschen Stadttheaters in der Königstraße nach unseren heutigen Begriffen ein ziemlich düsterer Raum, mit nur einem einzigen Rang versehen, über welchem sich sofort die Galerie erhob [...]. Mit Bezug auf diesen Raum interpellierte der aus Riga, gebürtige Violoncellist Arved Poorten den Meister, indem er es einen Stall, eine Scheune nannte: ›wie haben Sie denn, Meister, darin dirigieren können?‹ Da habe ihm Wagner ernsthaft erwidert: drei Dinge seien ihm aus dieser ›Scheune‹ als merkwürdig in der Erinnerung geblieben: erstlich das stark aufsteigende, nach Art eines Amphitheaters sich erhebende Parkett, zweitens die Dunkelheit des Zuschauerraumes und drittens das ziemlich tief liegende Orchester. ›Wenn er je einmal dazu käme, sich ein Theater nach seinen Wünschen zu errichten, so werde er diese drei Dinge dabei in Betracht ziehen, das habe er sich schon damals gedacht.‹ Die Idee des Bayreuther Festspielhauses war für seinen zukünftigen Erbauer in diesen drei Elementen bereits im Keime enthalten." (Glasenapp). Wagner stand ein kleines, aber versiertes Orchester zur Verfügung, das bei Bedarf mit Militärmusikern verstärkt wurde.

Wagner wohnte zunächst in der Nähe des Theaters: "[…] vom Theaterlokal nur wenige Minuten entfernt, befand sich, […] in der Schmiedestraße [heute: Kalēju iela], Wagners erste Rigaer Wohnung, in dem – seither umgebauten – damals Thauschen Hause, gegenüber der Mündung der Johanniskirchengasse [heute: Jāņa sēta]: düster und unfreundlich, nach dem Hofe zu gelegen, dem Meister durch die darin herrschende widerliche Ausdünstung von Schnaps und Spiritus noch lange in unvergessener Erinnerung!" (Glasenapp). Im Frühjahr 1838 verließ Wagner seine enge Stadtwohnung und bezog den oberen Stock eines geräumigen Hauses außerhalb der alten Festungswälle in der Petersburger Vorstadt, nördlich vom Zentrum.

Wagner arbeitete am Libretto zu einer komischen Oper mit dem Titel "Männerlist größer als Frauenlist oder Die glückliche Bärenfamilie" nach Motiven aus "Tausendundeine Nacht", brach die Arbeit an der Vertonung aber ab und wendete sich dem anspruchsvollerem Projekt einer großen tragischen Oper zu: "Rienzi, der Letzte der Tribunen", an dem er bereits in Magdeburg und im Sommer des Umzugs nach Riga gearbeitete hatte.

 Riga
   
  Das Schwarzhäupterhaus
   

Die in Routine zu erstarren drohende tägliche Arbeit als Musikdirektor mit dem Repertoireprogramm langweilte ihn schnell, obwohl er sich die Arbeit mit einem zweiten Kapellmeister teilen konnte. Parallel veranstaltete er - außerhalb des Repertoireprogramms - in der Wintersaison 1838 einen Zyklus von sechs anspruchsvollen Orchesterkonzerten. Als Hauptwerke wurden Beethovens dritte bis achte Sinfonie, die große Leonoren-Ouvertüre, Mozarts späte Sinfonie in g-Moll, die Jubelouvertüre und das Vorspiel zu "Euryanthe" von Weber aufgeführt. Außerdem standen Gesangs- und Instrumentalsoli sowie Chöre auf dem Programm. Von Wagner initiierte Konzerte fanden auch im "nicht allzugroßen, aber schönen Konzertsaal des altertümlichen Schwarzhäupterhauses" am Rathausplatz (heute Rātslaukums, in den 1990 Jahren wieder aufgebaut) statt.

An Wagner erinnert in Riga auch der vom österreichischen Maler Hans Makart geschaffene bedeutende Zyklus mit Motiven aus dem "Ring des Nibelungen", die dieser 1883 als Huldigung an den von ihm verehrten, kurz zuvor verstorbenen Richard Wagner schuf (Art Museum Riga Bourse, Doma laukums 6).

Wagners Rigaer Zeit endete ähnlich unerfreulich wie seine Engagements in Magdeburg und Königsberg. Bereits vor dem letzten dieser Konzerte am 7. Mai 1839 war die Stelle des Musikdirektors hinter seinem Rücken anderweitig vergeben worden. Wagner beschloss daraufhin, zum großen Sprung anzusetzen. Das Ziel hieß Paris. Die Kompositionsarbeit am "Rienzi" wurde unterbrochen, Wagner nahm vier Wochen lang Französisch-Unterricht, doch gegen den gewaltigen Schuldenberg, der sich wieder einmal angehäuft hatte, half schließlich nur die Flucht. Am 9. Juli 1839 begann von Bad Mitau aus, wo die Rigaer Theatertruppe gastierte, eine mehr als dreiwöchige abenteuerliche Reise, die ihn und seiner Frau beinahe das Leben kostete. Der Aufbruch musste heimlich erfolgen, ohne Papiere, damit die Gläubiger in Deutschland nicht durch Paßgesuche aufmerksam wurden, und bei Nacht und Nebel, wegen der Patrouillen an der ostpreußisch-russischen Grenze. Am 19. Juli 1839 gingen Wagner und seine Frau, beladen mit etlichen Koffern und begleitet von ihrem kurz vor der Abreise zugelaufenen Neufundländer "Robber", in Pillau an Bord eines winzigen Seglers namens "Thetis" und stachen in See Richtung Kopenhagen. Zehn Tage später gerieten sie im Skagerrak in einen verheerenden Sturm, der den Kapitän zwang, die Insel Boröya an der Südküste Norwegens anzulaufen. "Sandwike ist's! Genau kenn ich die Bucht", heißt es später im "Fliegenden Holländer". Auch das Toben des Sturmes und die Arbeitsrufe der Matrosen hatten sich unvergesslich eingeprägt und wurden in der Oper später musikalisch umgesetzt.

Giacomo Meyerbeer
   

Giacomo Meyerbeer, bedeutendster und erfolgreichster Vertreter der Grand Opèra, den Wagner, obwohl er von ihm gefördert
worden war, in seinen Schriften hart angriff und auf den seine schärfsten antisemitischen Vorurteile zielten

 
   
   

Eine Woche später gerieten die Flüchtlinge erneut in einen Sturm. Diesmal war der Seegang so heftig, dass sie in der Kajüte ihren Tod erwarteten. Am 12. August 1839, nachdem sie vor der Küste Englands noch ein drittes Mal schwerste Wetter zu überstehen hatten, kamen sie in London an, mieteten sich für eine Woche im Boardinghaus "Kingsarm", Old Comptonstreet, ein.

Am 20. August fuhren Richard und Minna Wagner per Dampfschiffüber den Kanal nach Boulougne-sur-Mer. Wagner plante, weiter am "Rienzi" arbeiten, bevor sie nach Paris reisen wollten und hatte außerdem auf der Überfahrt erfahren, dass der Komponist Giacomo Meyerbeer sich in der Stadt aufhielt. Mit Minna fand er außerhalb von Boulougne-sur-Mer als Unterkunft, "auf der großen Straße nach Paris, in halbstündiger Entfernung von Boulogne, im freigelegenen Haus eines ländlichen Marchand de vin zwei fast unmöblierte Kammern, die wir auf kurze Zeit mieteten und zu unsrem Zweck mit vieler Erfindung, worin namentlich Minna, sich auszeichnete, dürftig aber genügend einrichteten. Außer einem Bett und zwei Stühlen ward ein Tisch aufgetrieben, auf welchem wir, sobald ich meine Arbeit am "Rienzi" hinweggeräumt hatte, unsre in einem Kamine selbst zubereiteten Mahlzeiten zu uns nahmen."

Der Besuch bei Meyerbeer verlief für Wagner äußerst zufriedenstellend, der bereits berühmte Komponist nahm den jungen Kollegen freundlich auf, ließ sich geduldig aus dem "Rienzi" vorlesen und sagte zu, empfehlende Briefe an die Direktion der Großen Pariser Oper zu schreiben. Außerdem machte er Wagner mit dem Komponisten Ignaz Moscheles und der Pianistin Marie Leopoldine Blahedka bekannt, die sich gerade in Boulogne-sur-Mer aufhielten.

Nach knapp vierwöchigem Aufenthalt in der kleinen Hafenstadt erreichten Richard und Minna Wagner am 7. September 1839 Paris.