Die Kunst und die Revolution (1849)

Wagner schrieb "Die Kunst und die Revolution" im Sommer 1849 in Paris und versuchte vergeblich, diesen Essay in Frankreich in der Zeitschrift "National" zu veröffentlichen. Im Juli 1849, unmittelbar nach seiner Übersiedlung nach Zürich, überarbeitete Wagner "Die Kunst und die Revolution" und publizierte jetzt im Verlag Otto Wigand in Leipzig. Es war der erste Text in der Reihe seiner Zürcher Kunstschriften: Anschließend schrieb Wagner "Das Kunstwerk der Zukunft", worin er seine Gedanken weiter konkretisierte; als dritter Teil sollte die Abhandlung "Die Künstlerschaft der Zukunft" folgen, die Wagner jedoch zugunsten des Dramenentwurfs  "Wieland der Schmiedt" beiseite legte und später nicht mehr abschliesen konnte. Nach einem erneuten Aufenthalt in Paris von Februar bis Juli 1850 verfasste Wagner nach seiner Rückkehr nach Zürich "Das Judenthum in der Musik" und arbeitete seit September 1850 an seinen theoretischen Hauptwerk "Oper und Drama", das erst 1852 erschien.

Den Ausgangspunkt für diese Phase seiner theoretischen Arbeiten beschrieb Wagner in einen Brief an Liszt vom 5. Juni 1849 aus Paris:

"fern von aller politischen spekulation, fühle ich mich aber gedrungen, unverholen herauszusagen: auf dem boden der antirevolution wächst keine kunst mehr; sie würde auf dem boden der revolution vielleicht zunächst auch nicht wachsen, wenn nicht bei zeiten – dafür gesorgt werden sollte. Kurz heraus! ich setze mich morgen darüber, für irgend ein bedeutendes politisches journal, einen tüchtigen artikel über das theater der zukunft zu schreiben. Ich verspreche Dir, darin die politik möglichst ganz beiseite zu lassen, und in sofern Dich und niemand zu compromittiren: aber was die kunst und das theater betrifft, da erlaube mir mit möglichstem anstand so roth wie möglich zu sein, denn uns hilft keine andre farbe als die ganz bestimmte.

(. . .) Nun denn, geld habe ich nicht, aber ungeheuer viel lust, etwas künstlerischen terrorismus auszuüben. Gieb mir Deinen segen, – oder noch besser: gieb mir Deinen beistand! Komm hierher und führe die große jagd an; wir wollen schießen, daß links und rechts die hasen liegen bleiben sollen".

Wagner hatte im Sommer 1849 erkannt, dass die europäischen Revolutionen von 1848/49 endgültig gescheitert waren, doch er war nicht bereit, sich auf die Seite der konservativen Reaktion zu stellen. Ausdrücklich lehnte er die Förderung der Kunst und des Theaters durch die neuen-alten Machteliten ab und er verwies auf den Fall des französischen General Louis-Eugene Cavaignac, der im Juni 1848 die Revolution in Paris blutig niedergeschlagen und für kurze Zeit eine Militärdiktatur errichtet hatte. Dieser General hatte nach dem Sieg der Konterrevolution die Förderung der Pariser Theater mit öffentlichen Mitteln deutlich gesteigert und so für den Fortbestand des Theaterbetriebs gesorgt. Wagner diagnostizierte:

"Also bloß dieses Interesse hat der Staat am Theater! Er sieht in ihm die industrielle Anstalt; nebenbei wohl aber auch ein geistesschwächendes, Bewegung absorbirendes, erfolgreiches Ableitungsmittel für die gefahrdrohende Regsamkeit des erhitzten Menschenverstandes, welcher im tiefsten Mismuth über die Wege brütet, auf denen die entwürdigte menschliche Natur wieder zu sich selbst gelangen soll".

Vor diesen Hintergrund wollte Wagner das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft durch den Rückgriff das das antike griechische Drama neu bestimmen. In seiner historischen Deutung war in der antiken Tragödie, insbesondere in den Werken von Aischylos, das Ideal des "Gesammtkunstwerks" realisiert worden. Wagner verwendete in "Kunst und Revolution" erstmals diesen Ausdruck zur Beschreibung einer politischen und künstlerischen Utopie. Alle Bestandteile des theatralischen Kunstwerkes waren hier gleichberechtigt vertreten; zugleich war das Theater der "Ausdruck des Tiefsten und Edelsten des Volksbewußtseins". Da eine Wiederherstellung dieser Verhältnisse mit den Mitteln der Politik nicht mehr möglich war, wie Wagner unmissverständlich feststellte, forderte er jetzt ein Theater, das diese revolutionäre Utopie realisieren sollte. Das neue Theater sollte "Vorläufer und Muster aller künftigen Gemeindeinstitutionen werden". Damit setzte Wagner an die Stelle der politischen Revolution seine Revolution der Oper.