Wagners Rede zur Grundsteinlegung des Festspielhauses
am 22. Mai 1872

Meine Freunde und werthen Gönner!

Durch Sie bin ich heute auf einen Platz gestellt, wie ihn gewiß noch nie vor mir ein Künstler einnahm. Sie glauben meiner Verheißung, den Deutschen ein ihnen eigenes Theater zu gründen, und geben mir die Mittel, dieses Theater in deutlichem Entwurfe vor ihnen aufzurichten. Hierzu soll für das Erste das provisorische Gebäude dienen, zu welchem wir heute den Grundstein legen. Wenn wir uns hier zur Stelle wiedersehen, soll Sie dieser Bau begrüßen, in dessen charakteristischer Eigenschaft Sie sofort die Geschichte des Gedankens lesen werden, der in ihm sich verkörpert. Sie werden eine mit dem dürftigsten Materiale ausgeführte äußere Umschalung antreffen, die Ihnen im glücklichsten Falle die flüchtig gezimmerten Festhallen zurückrufen wird, welche in deutschen Städten zu Zeiten für Sänger- und ähnliche genossenschaftliche Festzusammenkünfte hergerichtet, und alsbald nach den Festtagen wieder abgetragen wurden. Was von diesem Gebäude jedoch auf einen dauernden Bestand berechnet ist, soll Ihnen dagegen immer deutlicher werden, sobald Sie in sein Inneres eintreten. Auch hier wird sich Ihnen zunächst noch ein allerdürftigstes Material, eine völlige Schmucklosigkeit darbieten; Sie werden vielleicht verwundert selbst die leichten Zierrathen vermissen, mit welchen jene gewohnten Festhallen in gefälliger Weise ausgeputzt waren. Dagegen werden Sie in den Verhältnissen und den Anordnungen des Raumes und der Zuschauerplätze einen Gedanken ausgedrückt finden, durch dessen Erfassung Sie sofort in eine neue und andere Beziehung zu dem von Ihnen erwarteten Bühnenspiele versetzt werden, als diejenige es war, in welcher Sie bisher beim Besuche unserer Theater befangen |waren. Soll diese Wirkung bereits rein und vollkommen sein, so wird nun der geheimnißvolle Eintritt der Musik Sie auf die Enthüllung und deutliche Vorführung von scenischen Bildern vorbereiten, welche, wie sie aus einer idealen Traumwelt vor Ihnen sich darzustellen scheinen, die ganze Wirklichkeit der sinnvollsten Täuschung einer edlen Kunst vor Ihnen kundgeben sollen. Hier darf nichts mehr in bloßen Andeutungen eben nur provisorisch zu Ihnen sprechen; so weit das künstlerische Vermögen der Gegenwart reicht, soll Ihnen im scenischen, wie im mimischen Spiele das Vollendetste geboten werden. –

So mein Plan, welcher Das, was ich vorhin das auf Dauer berechnete unseres Gebäudes nannte, in die möglichst vollendete Ausführung seines auf eine erhabene Täuschung abzielenden Theiles verlegt. Muß ich das Vertrauen in mich setzen, die hiermit gemeinte künstlerische Leistung zum vollen Gelingen zu führen, so fasse ich den Muth hierzu nur aus einer Hoffnung, welche mir aus der Verzweiflung selbst erwachsen ist. Ich vertraue auf den deutschen Geist, und hoffe auf seine Offenbarung auch in denjenigen Regionen unseres Lebens, in denen er, wie im Leben unserer öffentlichen Kunst, nur in allerkümmerlichster Entstellung dahinsiechte. Ich vertraue hierfür vor Allem auf den Geist der deutschen Musik, weil ich weiß, wie willig und hell er in unseren Musikern aufleuchtet, sobald der deutsche Meister ihnen denselben wach ruft; ich vertraue auf die dramatischen Mimen und Sänger, weil ich erfuhr, daß sie wie zu einem neuen Leben verklärt werden konnten, sobald der deutsche Meister sie von dem eitlen Spiele einer verwahrlosenden Gefallkunst zu der ächten Bewährung ihres so bedeutenden Berufes zurückleitete. Ich vertraue auf unsere Künstler, und darf dieß laut aussprechen an dem Tage, der eine so auserwählte Schaar derselben auf meinen bloßen freundschaftlichen Anruf aus den verschiedensten Gegenden unseres Vaterlandes um mich versammelte: wenn diese, in selbstvergessener Freude an dem Kunstwerke, unseres großen Beethoven's Wunder-Symphonie Ihnen heute als Festgruß zutönen, dürfen wir Alle uns wohl sagen, daß auch das Werk, welches wir heute gründen wollen, kein trügerisches Luftgebäude sein wird, wenngleich wir Künstler ihm eben nur die Wahrhaftigkeit der in ihm zu verwirklichenden Idee verbürgen können.

An wen aber wende ich mich nun, um dem idealen Werke auch seine solide Dauer in der Zeit, der Bühne ihre schützende monumentale Gehäusung zu sichern?

Man bezeichnete jüngst unsere Unternehmung öfter schon als die Errichtung des ›National-Theaters in Bayreuth‹. Ich bin nicht berechtigt, diese Bezeichnung als giltig anzuerkennen. Wo wäre die ›Nation‹, welche dieses Theater sich errichtete? Als kürzlich in der französischen National-Versammlung über die Staatsunterstützung der großen Pariser Theater verhandelt wurde, glaubten die Redner für die Forterhaltung, ja Steigerung der Subventionen sich feurig verwenden zu dürfen, weil man die Pflege dieser Theater nicht nur Frankreich, sondern Europa schuldig wäre, welches von ihnen aus die Gesetze seiner Geisteskultur zu empfangen gewohnt sei. Wollen wir uns nun die Verlegenheit, die Verwirrung denken, in welche ein deutsches Parlament gerathen würde, wenn es die ungefähr gleiche Frage zu behandeln hätte? Seine Diskussionen würden vielleicht zu der bequemen Abfindung führen, daß unsere Theater eben keiner nationalen Unterstützung bedürften, da die französische National-Versammlung ja auch für ihre Bedürfnisse bereits sorgte. Im besten Falle würde unser Theater dort so behandelt werden, wie noch vor wenigen Jahren in unseren verschiedenen Landtagen dem deutschen Reiche es widerfahren mußte, nämlich: als Chimäre.
   
Baute sich auch vor meiner Seele der Entwurf des wahrhaften deutschen Theaters auf, so mußte ich doch sofort erkennen, daß ich von Innen und Außen verlassen bleiben wurde, wollte ich mit diesem Entwurfe vor die Nation treten. Doch meint Mancher wohl, was Einem nicht geglaubt werden könne, würde vielleicht Vielen geglaubt: es dürfte am Ende gelingen, eine ungeheuere Aktien-Gesellschaft zusammenzubringen, welche einen Architekten beauftrüge, ein prachtvolles Theatergebäude irgendwo aufzurichten, dem man dann kühn den Namen eines ›deutschen Nationaltheaters‹ geben dürfte, in der Meinung, es würde darin gar bald von selbst auch eine deutsch-nationale Theaterkunst sich herausbilden. Alle Welt ist heut' zu Tage in dem festen Glauben an einen immerwährenden, und namentlich in unserer Zeit äußerst wirksamen, sogenannten Fortschritt, |ohne sich eigentlich wohl darüber klar zu sein, wohin denn fortgeschritten werde, und was es überhaupt mit diesem ›Schreiten‹ und diesem ›Fort‹ für eine Bewandtniß habe; wogegen Diejenigen, welche der Welt wirklich etwas Neues brachten, nicht darüber befragt wurden, wie sie sich zu dieser fortschreitenden Umgebung, die ihnen nur Hindernisse und Widerstände bereitete, verhielten. Der unverhohlenen Klagen hierüber, ja der tiefen Verzweiflung unserer allergrößten Geister, in deren Schaffen wirklich der einzige und wahre Fortschritt sich kundgab, wollen wir an diesem Festtage nicht gedenken; wohl aber dürften Sie Demjenigen, dem Sie heute eine so ungemeine Auszeichnung gewähren, es gestatten, seine innige Freude darüber kundzugeben, daß der eigenthümliche Gedanke eines Einzelnen schon bei seinen Lebzeiten von so zahlreichen Freunden verstanden und förderlich erfaßt werden konnte, wie Ihre Versammlung heute und hier mir dieß bezeugt.
   
Nur Sie, die Freunde meiner besonderen Kunst, meines eigensten Wirkens und Schaffens, hatte ich, um für meine Entwürfe mich an Theilnehmende zu wenden: nur um Ihre Mithilfe für mein Werk konnte ich Sie angehen: dieses Werk rein und unentstellt Denjenigen vorführen zu können, die meiner Kunst ihre ernstliche Geneigtheit bezeigten, trotzdem sie ihnen nur noch unrein und entstellt bisher vorgeführt werden konnte, – dieß war mein Wunsch, den ich Ihnen ohne Anmaaßung mittheilen durfte. Und nur in meine Gönner und Freunde, darf ich für jetzt den Grund erkennen, auf welchen wir den Stein legen wollen, der das ganze, uns noch so kühn vorschwebende Gebäude unserer edelsten deutschen Hoffnungen tragen soll. Sei es jetzt auch bloß ein provisorisches, so wird es dieses nur in dem gleichen Sinne sein, in welchem seit Jahrhunderten alle äußere Form des deutschen Wesens eine provisorische war. Dieß aber ist das Wesen des deutschen Geistes, daß er von Innen baut: der ewige Gott lebt in ihm wahrhaftig, ehe er sich auch den Tempel seiner Ehre baut. Und dieser Tempel wird dann gerade so den inneren Geist auch nach außen kundgeben, wie er in seiner reichsten Eigenthümlichkeit sich selbst angehört. So will ich diesen Stein als den Zauberstein bezeichnen, dessen Kraft die verschlossenen Geheimnisse |jenes Geistes Ihnen lösen soll. Er trage jetzt nur die sinnvolle Zurüstung, deren Hilfe wir zu jener Täuschung bedürfen, durch welche Sie in den wahrhaftigsten Spiegel des Lebens blicken sollen. Doch schon jetzt ist er stark und recht gefügt, um dereinst den stolzen Bau zu tragen, sobald es das deutsche Volk verlangt, zu eigener Ehre mit Ihnen in seinen Besitz zu treten. Und so sei er geweiht von Ihrer Liebe, von Ihren Segenswünschen, von dem tiefen Danke, den ich Ihnen trage,
Ihnen Allen, die mir wünschten, gönnten, gaben und halfen! – Er sei geweiht von dem Geiste, der es Ihnen eingab, meinem Anrufe zu folgen; der Sie mit dem Muthe erfüllte, jeder Verhöhnung zum Trotz, mir ganz zu vertrauen; der aus mir zu Ihnen sprechen konnte, weil er in Ihrem Herzen sich wiederzuerkennen hoffen durfte: von dem deutschen Geiste, der über die Jahrhunderte hinweg Ihnen seinen jugendlichen Morgengruß zujauchzt. –«

Ich darf es für unnöthig halten, hier des Verlaufes des schönen Festes zu gedenken, dessen Sinn und Bedeutung ich in der voranstehenden Rede genügend bezeichnet zu haben glaube. Mit ihm wurde eine Unternehmung eingeleitet, welche die Verhöhnung und Verunglimpfung Derjenigen zu ertragen vermag, denen der ihr zu Grunde liegende Gedanke unverständlich bleiben mußte, wie dieß wohl von der Mehrzahl der auf dem heutigen Lebensmarkte sinnlos um die Fristung eines ephemeren Daseins in Kunst und Litteratur sich Abmühenden nicht anders zu erwarten sein kann. Wie beschwerlich der Fortgang dieser Unternehmung fallen möge, so darf ich, und es dürfen dieß nicht minder meine Freunde, hierin doch nur dieselben Beschwernisse erkennen, welche seit langen Zeiten, seit Jahrhunderten, auf der gesunden Entwickelung einer den Deutschen wahrhaft eigenthümlichen Kultur lasten. Wer den von meinem besonderen Standpunkte aus hierüber gewonnenen Aufklärungen und den Erörterungen derselben theilnahmvoll gefolgt ist, dem habe ich jetzt diese Beschwernisse nicht näher mehr zu bezeichnen. Meine Annahmen und Hoffnungen in diesem Bezuge will ich hier jedoch schließlich noch nach dem einen Begriffe zusammengefaßt darlegen, welcher jetzt unter dem Namen » Bayreuth« wirklich bereits zur Bezeichnung eines, theils ungekannten oder misverstandenen, theils voll Spannung und Vertrauen erwarteten Etwas, unserer Öffentlichkeit geläufig geworden ist.
   
Was nämlich unsere nicht immer sehr geistvollen Witzlinge bisher unter dem unsinnigen Begriffe einer »Zukunftsmusik« zu ihrer Belustigung sich auftischten, das hat jetzt seine nebelhafte Gestalt verändert, und ist auf festem Grunde und Boden zu einem wirklich gemauerten »Bayreuth« geworden. Der Nebel hat also ein Lokal gewonnen, in welchem er eine ganz reale Form annimmt. Das »Zukunftstheater« ist nicht mehr die »abgeschmackte Idee«, welche ich den wirklichen Hof- und Stadttheatern aufdrängen möchte, etwa um General-Musikdirektor, oder gar General-Intendant zu werden, sondern (vielleicht aus dem Grunde, weil ich damit nirgends angekommen wäre?) scheine ich nun meine Idee einem gewissen Lokale einpflanzen zu wollen, welches jetzt als solches in Betracht zu kommen hat. Dieses ist das kleine, abgelegene, unbeachtete Bayreuth. Jedenfalls bin ich sonach nicht darauf ausgegangen, meine Unternehmung im Glanze einer reichbevölkerten Hauptstadt bespiegeln zu lassen, was mir allerdings minder schwierig gefallen wäre, als Mancher zu glauben vorgeben mag. Möge nun der Spott jener Witzigen bald an der Kleinheit des Lokales, bald an der Überschwenglichkeit des damit verbundenen Begriffes sich ergehen, immer verbleibt dem Spottbilde die Eigenschaft eines zum Lokale gewordenen Begriffes, welchen ich jetzt mit größerer Befriedigung aufnehme, als dieß mir einst mit dem sehr sinnlosen einer »Zukunftsmusik« möglich war. Konnten diesen letzteren meine Freunde in dem Sinne der tapferen Niederländer, welche nach einem ihnen gegebenen Schimpfworte mit Stolze sich »Geusen« nannten, zur Bezeichnung ihrer Tendenzen aufnehmen, so fasse ich nun den Namen »Bayreuth«, als von guter Vorbedeutung, willig auf, um in ihm Das vereinigt auszudrücken, was aus den weitesten Kreisen her zur lebenvollen Verwirklichung des von mir entworfenen Kunstwerkes sich mir anschließt. –
   
Wer, weit in der Welt umher verschlagen, an die Stätte gelangt, die er sich zur letzten Rast erwählt, beachtet genau die sich ihm aufdrängenden Anzeichen, denen er eine günstige Deutung zu geben sucht. Ließ ich in den »Meistersingern« meinen Hans Sachs Nürnberg als in Deutschlands Mitte liegend preisen, so dünkte mich nun dem erwählten Bayreuth diese gemüthliche Lage mit noch größerem Rechte zugesprochen werden zu können. Bis hierher erstreckte sich einst der ungeheure hercynische Wald, in welchen die Römer nie vordrangen; von ihm ist jetzt noch die Benennung des »Frankenwaldes« übrig geblieben, dessen ehemalige stellenweise Ausrodung uns in den zahlreichen Ortsnamen, welche das »Rod« oder »Reuth« aufweisen, als Andenken verblieben ist. Im Betreff des Namens »Bayreuth« giebt es zwei verschiedene Erklärungen. Hier sollen die Bayern, deren Herzögen in den ältesten Zeiten das Land vom fränkischen Könige einmal übergeben war, gereuthet und sich einen Wohnsitz angelegt haben: diese Annahme schmeichelt einem gewissen historischen Gerechtigkeitssinne, nach welchem das Land, nachdem es oft seine Herren gewechselt, an Diejenigen zurückgefallen sei, denen es einen Theil seiner ersten Kultur verdankte. Eine andere, skeptischere Erklärung giebt an, es handele sich hier einfach um den Namen einer ersten Burg, welche »beim Reuth« angelegt wurde. Immer handelt es sich jedenfalls um das »Reuth«, die der Wildniß abgerungene, urbar gemachte Stätte; und wir werden hiermit an das »Rütli« der Urschweiz erinnert, um dem Namen eine immer schönere und ehrwürdigere Bedeutung abzugewinnen. Das Land ward zur fränkischen Mark des deutschen Reiches gegen die fanatischen Tschechen, deren friedlichere slavische Brüder in ihm zuvor sich angesiedelt und seine Kultur in der Weise gesteigert hatten, daß noch jetzt viele der Ortsnamen zugleich das slavische und deutsche Gepräge an sich tragen; ohne ihre Eigenthümlichkeit aufopfern zu müssen, wurden hier Slaven zuerst zu Deutschen, und theilten friedlich alle Schicksale der gemeinsamen Bevölkerung. Ein gutes Zeugniß für die Eigenschaften des deutschen Geistes! Durch eine lange Herrschaft über diese Mark nahmen die Burggrafen von Nürnberg ihren Weg zur Brandenburger Mark, in welcher sie den Königsthron Preußens, endlich den deutschen Kaiserstuhl errichten sollten. War nie der Römer hier eingedrungen, so blieb Bayreuth doch von der romanischen Kultur nicht unberührt. In der Kirche sagte es sich kräftig von Rom los; die oft zu Schutt verbrannte alte Stadt legte aber unter prächtig gesinnten Fürsten das Gewand des französischen Geschmackes an: ein Italiener erbaute mit einem großen Opernhause eines der phantasievollsten Denkmäler des Rococostyles. Hier florirten Ballet, Oper und Komédie. Aber der Bürgermeister von Bayreuth »affektirte«, wie die hohe Dame hierüber sich ausdrückte, die zu bewillkommnende Schwester Friedrich's des Großen im ehrlichen  Deutsch anzureden.
   
Wem träte nicht aus diesen wenigen Zügen ein Bild des deutschen Wesens und seiner Geschichte entgegen, das im vergrößerten Maaßstabe uns das ganze deutsche Reich widerzuspiegeln möchte? Ein rauher Grund und Boden, gedüngt von den verschiedenartigsten Völkerschichten, welche sich auf ihm lagerten, mit oft kaum verständlichen Ortsnamen, und an nichts endlich deutlich erkennbar, als durch die mit siegreicher Treue behauptete deutsche Sprache. Die römische Kirche drang ihm ihr Latein, die welsche Kultur ihr Französisch auf: der Gelehrte, der Vornehme sprach nur noch die fremde Sprache, aber der Tölpel von Bürgermeister »affektirte« immer wieder sein Deutsch. Und beim Deutsch verblieb es endlich doch. Ja, wie wir dieß aus näherer Betrachtung jenes Vorfalles zwischen dem Bayreuther Bürgermeister und der preußischen Prinzessin ersehen, ward hier nicht nur deutsch gesprochen, sondern man affektirte sogar sich in »gereinigtem« Deutsch auszudrücken, was der hohen Dame sehr peinlich auffallen mußte, da sie selbst in einer Begegnung mit der Kaiserin von Österreich sich, wegen des von beiden hohen Frauen einzig gekannten schlechten Dialektes ihrer speziellen Heimath, im Deutschen gegenseitig nicht verstehen konnten. Also auch der deutsche Kulturgedanke drückt sich hierin aus: offenbar nahm die gebildete Bürgerschaft von Bayreuth an der wieder erweckten Pflege der deutschen Litteratur den Antheil, welcher es ihr ermöglichte, dem unerhörten Aufschwunge des deutschen Geistes, dem Wirken eines Winkelmann, Lessing, Goethe und endlich Schiller, in der Weise zu folgen, daß ihr in den Produktionen ihres eigenen originellen, wie zu heiterer Selbstironisirung »Jean Paul« sich nennenden, Friedrich Richter, ein weithin beachteter Beitrag zur Kultur jenes Geistes erwachsen konnte, während das thörig entfremdete Wesen der den französischen Einflüssen fortgesetzt unterworfenen höheren Regionen einer gespenstischen Impotenz verfiel.
   
Wem wären aber die verwunderlichsten Gedanken fremd geblieben, als er am 22. Mai 1872 auf derselben Stelle Platz genommen, welche einst der markgräfliche Hof mit seinen Gästen, dem großen Friedrich selbst an der Spitze, erfüllte, um ein Ballet, eine italienische Oper oder eine französische Komédie sich vorführen zu lassen, und von derselben Bühne her die gewaltigen Klänge dieser wunderbaren neunten Symphonie von deutschen Musikern, aus allen Gegenden des Vaterlandes zum Feste vereinigt, sich zutragen ließ; wenn endlich von den Tribünen herab, auf welchen einst gallonirte Hoftrompeter die banale Fanfare zum Empfange der durchlauchtigen Herrschaften von Seiten eines devoten Hofstaates abgeblasen hatten, jetzt begeisterte deutsche Sänger den Versammelten zuriefen: »seid umschlungen, Millionen!«, wem schwebte da nicht ein tönend belebtes Bild vor, das ihm den Triumph des deutschen Geistes unabweisbar deutlich erkennen ließ?
   
Es war mir vergönnt, ohne Widerspruch zu finden, unserem einleitenden Feste diese Bedeutung beilegen zu dürfen; und Allen, die es mit uns feierten, ist der Name »Bayreuth«, von dieser Bedeutung getragen, zu einem theuren Angedenken, zu einem ermuthigenden Begriffe, zu einem sinnvollen Wahlspruche geworden.
   
Und solchen Wahlspruches bedarf es, um im täglichen Kampfe gegen das Eindringen der Kundgebungen eines tief sich entfremdeten Geistes der deutschen Nation auszudauern.
   
Die Frage: »was ist Deutsch?« hat mich seit lange ernstlich eingenommen. Immer gestaltete sie mir sich neu: glaubte ich sie in der einen Form untrüglich sicher beantworten zu können, so stand sie bald wieder in ganz veränderter Gestalt vor mir und zweifelnd blieb ich mir oft selbst die Antwort schuldig. Ein zu offener Verzweiflung getriebener Patriot, der wunderliche Arnold Ruge, glaubte schließlich aussagen zu müssen, der Deutsche sei »niederträchtig«. Wer dieses schreckliche Wort einmal vernommen, dem mag es wohl in Augenblicken des sich bäumenden Unmuthes wiederkehren; und vielleicht ist es dann einem jener starken Arkane zu vergleichen, mit welchen Ärzte einen tödtlichen Krankheitsanfall zu bewältigen suchen: es läßt uns nämlich schnell inne werden, daß wir ja selbst der »Deutsche« sind, der vor seinem eigenen entarteten Wesen zurückschreckt; dieser gewahrt, daß nur ihm diese Entartung, als solche, erkennbar ist, und was Anderes bietet ihm die Möglichkeit dieser Erkenntniß, als das unerschütterlich feste Bewußtsein von seiner wahren eigenen Art? Nur kann ihn jetzt kein Trug mehr täuschen; er vermag nicht mehr wohlgefällig sich zu belügen, und mit einem Anscheine sich zu schmeicheln, der alle Kraft für ihn verloren hat. An keiner lebensgiltigen Realität, an keiner wirkenden Form des Daseins kann er das Deutschsein erkennen, außer da, wo es sich in dieser Form eben schlecht, oft wirklich empörend ausnimmt. Selbst seine Sprache, dieses einzige heilige, durch die größten Geister ihm mühsam erhaltene und neugeschenkte Erbe seines Stammes, sieht er stumpfsinnig dem Verderbnisse durch öffentlichen Misbrauch preisgegeben: er gewahrt wie sich fast Alles dazu vorbereitet, das prahlende Wort des Präsidenten der nordamerikanischen Staaten wahr zu machen, daß nämlich bald auf der ganzen Erde nur eine Sprache noch gesprochen werden würde, – worunter, bei näherer Betrachtung der Sache, doch lediglich nur ein aus allen Ingredienzen, gemischter Universal-Jargon gemeint sein kann, zu welchem der heutige Deutsche sich allerdings schmeicheln darf einen recht hübschen Beitrag bereits geliefert zu haben.
   
Wer zur Zeit auch von diesen jammervollen Gedanken tief gepeinigt war, vernahm wohl eine unwiderstehlich ihn erfüllende Verheißung, als er an jenem Tage, eben in diesem wunderlichen Rococo-Saale des Bayreuther Opernhauses, das: "seid umschlungen, Millionen!" sich zurufen hörte, und er empfand vielleicht, daß das Wort des General Grant sich in anderer Weise erfüllen könnte, als es dem ehrenwerthen Amerikaner vorschweben mochte.
   
Doch ging es nun auch wohl Jedem auf, daß das erlösende deutsche Wort, im Sinne des großen Meisters der Töne, eine andere Stätte, als die des italienisch-französischen Opernsaales, zur Gewandung erhalten müsse, um zur That des fest sich zeichnenden Bildes zu werden. Und deshalb legten wir heute den Grundstein zu einem Gebäude, mit dessen Eigenthümlichkeit ich schließlich meinen Leser vertraut zu machen suchen will, um ihm un dieser besonderen Beschaffenheit schon jetzt das Beispiel zu kennzeichnen, welches meiner Sehnsucht darnach, dem deutschen Geiste eine ihm entsprechende, angehörige Stätte zu bereiten,.aufgegangen ist.
   
Wenn ich jetzt noch den Plan des im Aufbau begriffenen Festtheaters in Bayreuth erläutern will, glaube ich hierzu nicht zweckmäßiger vorgehen zu können, als indem ich auf die zuerst von mir gefühlte Nöthigung, den technischen Herd der Musik, das Orchester unsichtbar zu machen, zurückgreife; denn aus dieser einen Nöthigung ging allmählich die gänzliche Umgestaltung des Zuschauerraumes unseres neueuropäischen Theaters hervor.

Meine Gedanken über die Unsichtbarmachung des Orchesters kennen meine Leser bereits aus einigen näheren Darlegungen derselben in meinen vorangehenden Abhandlungen, und ich hoffe, daß ein seitdem von ihnen gemachter Besuch einer heutigen Opernaufführung, sollten sie dieß nicht schon früher von selbst empfunden haben, sie von der Richtigkeit meines Gefühles in der Beurtheilung der widerwärtigen Störung durch die stets sich aufdrängende Sichtbarkeit des technischen Apparates der Tonhervorbringung überzeugt hat. Habe ich in meiner Schrift über Beethoven den Grund davon erklären können, aus welchem uns schließlich, durch die Gewalt der Umstimmung des ganzen Sensitoriums bei hinreißenden Aufführungen idealer Musikwerke, der gerügte Übelstand, wie durch Neutralisation des Sehens, unmerklich gemacht werden kann, so handelt es sich dagegen bei einer dramatischen Darstellung eben darum, das Sehen selbst zur genauen Wahrnehmung eines Bildes zu bestimmen, welches nur durch die gänzliche Ablenkung des Gesichtes von der Wahrnehmung jeder dazwischen liegenden Realität, wie sie dem technischen Apparate zur Hervorbringung des Bildes eigen ist, geschehen kann.
   
Das Orchester war demnach, ohne es zu verdecken, in eine solche Tiefe zu verlegen, daß der Zuschauer über dasselbe hinweg unmittelbar auf die Bühne blickte: hiermit war sofort entschieden, daß die Reihe der Zuschauer nur in einer gleichmäßig aufsteigenden Reihe von Sitzen bestehen konnten, deren schließliche Höhe einzig durch die Möglichkeit, von hier aus das scenische Bild noch deutlich wahrnehmen zu können, seine Bestimmung erhalten mußte. Das ganze System unserer Logenränge war daher ausgeschlossen, weil von ihrer, sogleich an den Seitenwänden beginnenden, Erhöhung aus der Einblick in das Orchester nicht zu versperren gewesen wäre. Somit gewann die Aufstellung unserer Sitzreihen den Charakter der Anordnung des antiken Amphitheaters; nur konnte von einer wirklichen Ausführung der nach den beiden Seiten weit sich vorstreckenden Form des Amphitheaters, wodurch es zu einem, sogar überschrittenen Halbkreise ward, nicht die Rede sein, weil nicht mehr der von ihm großentheils umschlossene Chor in der Orchestra, sondern der, den griechischen Zuschauern nur in einer hervorspringenden Fläche gezeigte, von uns aber in ihrer vollen Tiefe benutzte Scene uns zur deutlichen Übersicht dazubietende Objekt ausmacht.
   
Demnach waren wir gänzlich den Gesetzen der Perspektive unterworfen, welchen gemäß die Reihen der Sitze sich mit dem Aufsteigen erweitern konnten, stets aber die gerade Richtung nach der Scene gewähren mußten. Von dieser aus hatte nun das Proscenium alle weitere Anordnung zu bestimmen: der eigentliche Rahmen des Bühnenbildes wurde nothwendig zum maaßgebenden Ausgangspunkte dieser Anordnung. Meine Forderung der Unsichtbarmachung des Orchesters gab dem Genie des berühmten Architekten, mit dem es mir vergönnt war zuerst hierüber zu verhandeln, sofort die Bestimmung des hieraus, zwischen dem Proscenium und den Sitzreihen des Publikums entstehenden, leeren Zwischenraumes ein: wir nannten ihn den »mystischen Abgrund«, weil er die Realität von der Idealität zu trennen habe, und der Meister schloß ihn nach vorn durch ein erweitertes zweites Proscenium ab, aus dessen Wirkung in seinem Verhältnisse zu dem dahinter liegenden engeren Proscenium er sich alsbald die wundervolle Täuschung eines scheinbaren Fernerrückens der eigentlichen Scene zu versprechen hatte, welche darin besteht, daß der Zuschauer den scenischen Vorgang sich weit entrückt wähnt, ihn nun aber doch mit der Deutlichkeit der wirklichen Nähe wahrnimmt; woraus dann die fernere Täuschung erfolgt, daß ihm die auf der Scene auftretenden Personen in vergrößerter, übermenschlicher Gestalt erscheinen.
   
Der Erfolg dieser Anordnung dürfte wohl allein genügen, um von der unvergleichlichen Wirkung des nun eingetretenen Verhältnisses des Zuschauers zu dem scenischen Bilde eine Vorstellung zu geben. Jener befindet sich jetzt, sobald er seinen Sitz eingenommen hat, recht eigentlich in einem "Theatron", d.h. einem Raume, der für nichts Anderes berechnet ist, als darin zu schauen, und zwar dorthin, wohin seine Stelle ihn weist. Zwischen |ihm und dem zu erschauenden Bilde befindet sich nichts deutlich Wahrnehmbares, sondern nur eine, zwischen den beiden Proscenien durch architektonische Vermittelung gleichsam im Schweben erhaltene Entfernung, welche das durch sie ihm entrückte Bild in der Unnahbarkeit einer Traumerscheinung zeigt, während die aus dem "mystischen Abgrunde" geisterhaft erklingende Musik, gleich den, unter dem Sitze der Pythia dem heiligen Urschooße Gaia's entsteigenden Dämpfen, ihn in jenen begeisterten Zustand des Hellsehens versetzt, in welchem das erschaute scenische Bild ihm jetzt zum wahrhaftigsten Abbilde des Lebens selbst wird.
   
Eine Schwierigkeit entstand im Betreff der den Seitenwänden des Zuschauerraumes zu gebenden Bedeutung: da sie durch keine Logenräume mehr unterbrochen waren, boten sie kahle Flächen, welche mit den aufsteigenden Reihen der Sitzplätze in keine sinnige Übereinstimmung zu bringen waren. Der berühmte Architekt, welchem zuerst die Aufgabe zuertheilt war, das Theater im Sinne einer monumentalen Ausführung zu entwerfen, wußte sich hier durch die Anwendung aller Hilfsmittel der architektonischen Ornamentik im edelsten Renaissance-Styl so vorzüglich zu helfen, daß uns die Flächen verschwanden und sich in eine fesselnde Augenweide verwandelten. Da wir für das provisorische Festtheater in Bayreuth jedem Gedanken an ähnlichen Schmuck, wie er nur durch ein kostbares edles Material Bedeutung erhält, entsagen mußten, drang sich uns überhaupt die Frage, was mit diesen, dem eigentlichen Zuschauerraume unentsprechenden Seitenwänden anzufangen sei, von Neuem auf. Ein Blick auf den ersten der im Anhange mitgetheilten Pläne, zeigt uns ein der Bühne zu sich verengendes Oblong des wirklich benutzten Raumes für die Zuschauer, begrenzt von zwei Seitenwänden, welche mit ihrem, dem Gebäude als solchem unerläßlichen, geraden Laufe dem Proscenium sich in der Weise zuwenden, daß dadurch eine sich erweiternde unschöne Winkelecke entsteht, deren Raum andererseits für die Bequemlichkeit der auf Stufen zu ihren Sitzen sich wendenden Zuschauer durchaus zweckmäßig zu verwenden war. Um die hierdurch zugleich vor dem
Proscenium zu beiden Seiten sich bildende, störende und die Wirkung des Ganzen belästigende Fläche möglichst unschädlich zu machen, war mein jetziger erfindungsreicher Berather bereits auf den Gedanken gekommen, ein nochmals vorgerücktes und erweitertes drittes Proscenium einzuschalten. Von der Vortrefflichkeit dieses Gedankens erfaßt, gingen wir aber bald noch weiter, und mußten finden, daß wir der ganzen Idee der perspektivisch nach der Bühne zu sich verkürzenden Breite des Zuschauerraumes nur dann vollkommen entsprechen würden, wenn wir die Wiederholung des von der Bühne aus sich erweiternden Prosceniums auf dessen ganzen Raum, bis zu seinem Abschlusse durch die ihn krönende Gallerie, ausdehnten, und somit das Publikum, auf jedem von ihm eingenommenen Platze, in die proscenische Perspektive selbst einfügten. Es ward hierzu eine dem Ausgangsproscenium entsprechende, nach oben sich erweiternde Säulenordnung als Begrenzung der Sitzreihen entworfen, welche über die dahinter liegenden geraden Seitenwände täuschte, und zwischen welcher die nöthigen Stufentreppen und Zugänge sich zweckmäßig verbargen. Wir gelangten somit zur schließlichen Feststellung des Planes der inneren Einrichtung, wie sie in den beigegebenen Plänen aufgezeichnet ist. –
   
Da uns nur die Einrichtung eines provisorischen Theaters aufgegeben war, wir somit die der Idee entsprechende Zweckmäßigkeit der inneren Einrichtung desselben einzig im Auge zu behalten hatten, durfte es uns als eine, unsere Unternehmung für jetzt einzig ermöglichende Erleichterung erscheinen, daß die äußere Gestalt des ganzen Theaterbaues, wie sie die innere Zweckmäßigkeit auch im Sinne der architektonischen Schönheit darzustellen hätte, nicht in das Gebiet der uns zur Aufgabe gestellten Erfindung zu rechnen war. Wäre uns selbst ein edleres Material, als dieß hier der Kostenanschlag gestattete, im Sinne der Errichtung eines monumentalen Ziergebäudes zur Verfügung gestellt gewesen, so würden wir doch gerade vor unserer Aufgabe zurückgeschrocken sein, und hätten uns nach einer Hilfe umsehen müssen, die wir mit Sicherheit so schnell kaum wohl irgendwo angetroffen haben würden. Es stellte sich hier uns nämlich die neueste, eigenthümlichste und deßhalb, weil sie noch nie versucht werden konnte, schwierigste Aufgabe für den Architekten der Gegenwart (oder der Zukunft?) dar. Gerade die spärlich uns zugemessenen Mittel wiesen uns darauf hin, für unseren Bau nur das rein Zweckmäßige und für die Erreichung der Absicht Nöthige zur Ausführung zu bringen: Zweck und Absicht lagen hier aber einzig in dem Verhältnisse des inneren Zuschauerraumes zu einer Bühne, welche in den größten Dimensionen zur Herrichtung einer vollendeten Scenerie bestimmt war. Eine solche Bühne hat den dreifachen Raum ihrer wirklichen, dem Zuschauer einzig zugewendeten Höhe nöthig, da der auf ihr dargestellte scenische Komplex sowohl nach unten versenkt, als nach oben aufgezogen werden können muß. Über dem eigentlichen Parterre bedarf die Bühne daher ihrer doppelten Höhe, während für den Zuschauerraum nur die einmalige Höhe nöthig ist. Wenn bloß diesem Zweckmäßigkeitsbedürfnisse nachgegeben wird, entsteht somit ein Konglomerat von zwei an einander gehefteten Gebäuden von verschiedenartigster Form und Größe. Um den hieraus sich ergebenden Abstand der beiden Gebäude möglichst zu verdecken, haben bei neueren Theaterbauten die Architekten es sich meistens angelegen sein lassen, auch den Zuschauerraum bedeutend aufsteigen zu lassen, außerdem aber auf diesem noch leere Räume zu konstruiren, welche zu Malerböden oder auch Verwaltungslokalitäten freigestellt, ihrer großen Unbequemlichkeit wegen aber selten zur Benutzung gezogen wurden. Immer noch war man hierbei durch die im Zuschauerraume bis zu beliebiger, ja oft unmäßiger Höhe aufsteigenden Logenränge unterstützt, deren oberste sich sogar bis weit über die Höhe der Bühne hinaus verlieren konnten, da man sie nur den ärmeren Klassen der Bevölkerung anbot, welchen die Beschwerde der dunstigen Vogelperspektive, aus welcher sie die Vorgänge im Parterre zu betrachten hatten, ohne Bedenken zugemuthet wurde. Allein diese Ränge fallen in unserem Theater hinweg, und kein architektonisches Bedürfniß kann uns bestimmen, über lange Wände den Blick nach oben zu richten, wie dieß im christlichen Dome allerdings der Fall ist.   

Die Opernhäuser der älteren Zeit wurden nach der Annahme der Nichtunterbrechung der Höhengrenze des Gebäudes, somit in der Form langer Kästen konstruirt, davon wir ein naives Exemplar am königlichen Opernhause in Berlin vor uns haben. Der Architekt hatte hierbei einzig eine Façade für den, dem Eingange zugewendeten, schmalen Theil des Gebäudes zu besorgen, welches seiner Länge nach man dagegen gern zwischen die Häuser einer Straße einbaute, um sie so dem Anblicke gänzlich zu entziehen.
   
Ich glaube nun, daß wir, mit der Aufgabe der Errichtung eines äußerlich kunstlos, auf einen hochgelegenen freien Raum zu stellenden provisorischen Theatergebäudes, dadurch, daß wir hierbei ganz naiv und ganz nach reiner Nothdurft verfuhren, zugleich zu der deutlichen Aufstellung des Problemes selbst gelangten. Nackt und bestimmt liegt dieses jetzt vor uns, und belehrt uns, gewissermaaßen handgreiflich, darüber, was unter einem Theatergebäude zu verstehen ist, wenn es auch äußerlich ausdrücken soll, welchem (gewiß nicht gemeinen, sondern durchaus idealen) Zwecke es zu entsprechen hat. Dieses Gebäude stellt somit in seinem Haupttheile den unendlich komplizirten technischen Apparat zu scenischen Aufführungen von möglichster Vollendung dar: ein Zugang zu diesem Gebäude enthält dagegen einen, gleichsam nur übermauerten Vorhof, in welchem sich Diejenigen zweckmäßig unterbringen wollen, welchen die scenische Aufführung zum Schauspiel werden soll.
   
Uns ist es, als ob, wenn diese einfache Bestimmung, wie wir sie nothgedrungen mit schlichtester Deutlichkeit in unserem Gebäude aussprechen mußten, ohne alles Voreingenommensein durch Bauwerke von ganz anderer Bestimmung wie Paläste, Museen und Kirchen es sind, festgehalten und zum unverkünstelten Ausdrucke gebracht wird, dem Genius der deutschen Baukunst eine nicht unwürdige, ja vielleicht ihm wahrhaft einzig eigenthümliche Aufgabe zur Lösung übergeben sei. Glaubt man dagegen, um der ewig unerläßlich dünkenden Hauptfaçade wegen, den Hauptzweck des Theaters durch Flügelanbaue, etwa für Bälle, Konzerte u. dgl. verdecken zu müssen, so werden wir aber wohl immer auch in dem Banne der hierfür üblichen, unoriginalen Ornamentik verbleiben; unseren Skulptoren und Bildhauern werden dann immer wieder die Motive der Renaissance mit uns nichts sagenden, unverständlichen Figuren und Zierrathen einzig einfallen, und – schließlich wird in einem solchen Theater es dann gerade wieder so hergehen, wie es eben im Operntheater der "Jetztzeit" der Fall ist; weßhalb denn auch jetzt schon meistens die Frage an mich gerichtet wird, warum mir denn durchaus ein besonderes Theater noththue.
   
Wer mich jedoch auch hierin richtig verstanden hat, wird sich der Einsicht nicht erwehren können, daß selbst die Architektur durch den Geist der Musik, aus welchem ich mein Kunstwerk, wie die Stätte seiner Verwirklichung entwarf, zu einer neuen Bedeutung geführt werden dürfte, und daß somit der Mythos des Städtebaues durch Amphion's Lyra einen noch nicht verlorenen Sinn habe. –
   
Schließlich dürften wir aber, von den hierdurch angeregten Betrachtungen aus, einen noch weiteren Blick auf das dem deutschen Wesen überhaupt Noththuende werfen, sobald wir es in die Bahn einer originalen, von falsch verstandenen und übel angewendeten fremden Motiven unbeirrten Entwickelung geleitet wünschen.
   
Es ist vielen Verständigen aufgefallen, daß die kürzlich gewonnenen ungeheueren Erfolge der deutschen Politik nicht das Geringste dazu vermochten, den Sinn und den Geschmack der Deutschen von einem blöden Bedürfnisse der Nachahmung des ausländischen Wesens abzulenken, und dagegen das Verlangen nach einer Ausbildung der uns verbliebenen Anlagen zu einer dem Deutschen eigenthümlichen Kultur anzuregen. Mit Mühe und Noth erwehrt sich unser großer deutscher Staatsmann der Anmaaßungen des römischen Geistes auf dem kirchlichen Gebiete; allseitig ganz unbeachtet bleiben die fortgesetzten Anmaaßungen des französischen Geistes im Betreff der Leitung und Bestimmung unseres Geschmackes und der von diesem wiederum beeinflußten Sitten. Einer Pariser Dirne fällt es ein, ihrem Hute eine gewisse extravagante Form zu geben, so genügt dieß, um alle deutschen Frauen unter denselben Hut zu bringen; oder ein glücklicher Börsenspekulant gewinnt über Nacht eine Million, und sofort läßt er sich eine Villa im St. Germain-Style bauen, zu welcher der Architekt die gehörige Façade in Bereitschaft hält. Bei den hierüber angestellten Betrachtungen kommt uns dann wohl der Gedanke an, es gehe dem Deutschen zu gut, und erst eine ihn überkommende große Noth werde ihn bestimmen können, zu der ihm einzig wohl anstehenden Einfachheit zurückzukehren, welche ihm durch die Erkennung seines wahrhaften, innigen Bedürfnisses verständlich werden dürfte.
   
Indem wir jetzt diesen, auf die Breite des Lebens einer Nation hinleitenden Gedanken, eben nur angedeutet lassen, sei es uns jedoch gestattet, ihn für die zuvor angeregte Betrachtung auf dem Gebiete einer idealen Noth festzuhalten. Das Charakteristische der Ausbildung unseres Planes für das besprochene Theatergebäude bestand darin, daß wir, um einem durchaus idealen Bedürfnisse zu entsprechen, die uns überkommenen Anordnungen des inneren Raumes Stück für Stück als ungeeignet und deßhalb unbrauchbar entfernen mußten, dafür nun aber eine neue Anordnung bestimmten, für welche wir, nach innen wie nach außen, ebenfalls keine der überkommenen Ornamente zu verwenden wissen, so daß wir unser Gebäude für jetzt in der naivsten Einfachheit eines Nothbaues erscheinen lassen müssen. Auf die erfinderische Kraft der Noth im Allgemeinen, hier aber der idealen Noth eines schönen Bedürfnisses, uns verlassend, verhoffen wir, gerade vermöge der durch unser Problem gegebenen Anregung, zur Auffindung eines deutschen Baustyles hingeleitet zu haben, welcher sich gewiß nicht unwürdig zuerst an einem der deutschen Kunst, und zwar der Kunst in ihrer populärsten nationalen Kundgebung durch das Drama, geweiheten Bauwerke, als von anderen Baustylen sich merklich unterscheidend und eigenthümlich zeigen könnte. Bis zur Ausbildung einer monumentalen architektonischen Ornamentik, welche etwa mit dem der Renaissance oder des Rococo in Reichthum und Mannigfaltigkeit wetteifern sollte, hat es hierbei gemächlich Zeit: nichts braucht übereilt zu werden, da wir sehr wahrscheinlich reifliche Muße zum Abwarten haben, bis das "Reich" sich zur Theilnahme an unserem Werke entschließt. Somit rage unser provisorischer, wohl nur sehr allmählich sich monumentalisirender Bau, für jetzt als ein Mahnzeichen in die deutsche Welt hinein, welcher es darüber nachzusinnen gebe, worüber Diejenigen sich klar geworden waren, deren Theilnahme, Bemühung und Aufopferung es seine Errichtung verdankt.
   
Dort stehe es, auf dem lieblichen Hügel bei Bayreuth.