Abschiedsszene in Sorrent.
von Elisabeth Förster-Nietzsche
Am letzten Abend ihres Zusammenseins machten Wagner und mein Bruder einen wundervollen einsamen Spaziergang die Küste entlang und zur Höhe hinauf, wo der Blick sich weit über Meer, Insel und Buchten ausbreiten und das herrliche Bild in sich aufnehmen kann. Es war ein schöner Herbsttag, mild, mit einer gewissen Melancholie der Beleuchtung, die den Winter vorahnen läßt. "Abschiedsstimmung" sagte Wagner. Da begann er plötzlich und zum erstenmal ausführlich von dem Parsifal zu reden und zwar ganz merkwürdig, nicht als von einem künstlerischen Plan, sondern von einem christlich-religiösen Erlebnis. Vielleicht fühlte Wagner, daß ein "Bühnenweihfestspiel" erdacht und komponiert von einem so schroffen Atheisten, wie er sich meinem Bruder in Tribschen immer gezeigt hatte (und wie ihn sicher alle seine Freunde in den kecksten Aussprüchen bis zum Anfang der siebziger Jahre gekannt haben) kaum als ein christlich-religiöser Akt empfunden werden könnte, wie er doch sollte. So fing er auf einmal an, meinem Bruder christliche Empfindungen und Erfahrungen wie Reue, Buße und allerhand Hinneigung zu christlichen Dogmen zu gestehen. Er erzählte ihm z.B. von dem Genuß, der er der Feier des heiligen Abendmahls verdanke - wohlverstanden der schmucklosen, protestantischen! Wenn es noch wenigstens das katholische Hochamt gewesen wäre, von welchem wohl jeder künstlerisch empfindende Mensch den tiefsten Eindruck erhält. Mein Bruder hatte eine große Vorliebe für aufrichtige, redliche Christen, wie sie ihm z.B. in Basel begegnet sind, aber er hielt es für unmöglich, daß jemand, der sich so wie Wagner bis zu den äußersten Konsequenzen als Atheist ausgesprochen hatte, jemals wieder zu einem frommen, naiven Glauben zurückkehren könnte. Er konnte deshalb Wagners plötzliche Wandlung nur als einen Versuch ansehen, sich mit den fromm gewordenen herrschenden Mächten in Deutschland zu arrangieren zu dem einzigen Zweck: um Erfolg zu haben.
Während Wagner redete und redete, verschwand über dem Meer der letzte Sonnestrahl, und ein leichter Nebel und die wachsende Dunkelheit breitete sich aus. Auch im Herzen meines Bruders war es dunkel geworden. Endlich fragte Wagner: "Sie verstummen ja ganz, lieber Freund?" Mit irgend einer Ausrede suchte mein Bruder sein Schweigen zu erklären, aber das Herz war ihm zum Zerspringen voll Kummer über diese Schauspielerei Wagners gegen sich selbst. Er schrieb folgende harte Worte nieder: "Ich bin nicht im Stande, irgendeine Größe anzuerkennen, welche nicht mit Redlichkeit gegen sich verbunden ist: Die Schauspielerei gegen sich flößt mir Ekel ein; entdecke ich so etwas, so gelten mir alle Leitungen nichts; ich weiß, sie haben überall und im tiefsten Grunde diese Schauspielerei."
Wenn Wagner zu meinem Bruder in aller Schlichtheit und Aufrichtigkeit gesagt hätte: "in diesem christlichen Mittelalter mit seinem gesteigerten religiösen Empfinden liegen für einen Künstler starke Antriebe vor, sie künstlerisch musikalische zu gestalten," wenn er mit stolzer Heiterkeit und etwas Schelmerei ihm gesagt hätte: "jetzt will ich einmal diese Zeitempfindung in Musik setzen," so würde dies mein Bruder sehr wohl begriffen und ihm zugestimmt haben. Aber diese Schauspielerei Wagners, als ob er nun selbst ein naiv frommer Christ geworden sei, konnte mein Bruder nicht überwinden. Es schien ihm unbeschreiblich traurig, daß Wagner, der mit unverwüstlicher Energie sich einstmals "unter dem Halloh der ganzen Welt" aufrecht hielt, nun gebrochen der herrschenden Zeitstimmung unterlag und zum Verleumder des Lebens wurde.
Immerhin möchte ich einen Zweifel lassen, ob bei Wagner die atheistischen oder christlich-pessimistischen der Erlösung bedürftigen Vorstellungen der tiefste Untergrund seines Wesens gewesen sind. Lohengrin und Tannhäuser sprechen für dieser letzte Anschauung.
In diesem Sinne hat späterhin die Mutter von Anselm Feuerbach Wagners Wandlung zu erklären versucht: "Der Parsifal sei eine religiöse Tat, eine Sündererlösung, die Wagner für sich selbst nach seinem oft so unerquicklichen und ungezügelten Leben nötig gehabt habe." Von diesem Ausspruch hat mir Erwin Rohde, der er durch Frau Ribbeck mitgeteilt worden war, erzählt; er fügte halb im Scherz hinzu: "Daß war eben der Gegensatz zwischen Wagner und Nietzsche. Nietzsche hatte gar keine Veranlassung sich nach Erlösung zu sehen; ich wüßte auch nicht von was, er war ja unglaubwürdig gut."
Über diesen schwermütigen letzten Spaziergang hat sich mein Bruder viel später erst ausgesprochen. Was war eigentlich an diesem Abend geschehen? Zwei leidenschaftlich hochgehaltene Ideale standen sich plötzlich schroff gegenüber; ein das Leben verneinender katholisch-romantischer Parsifal, jener das Leben bejahenden, das Leben vergöttlichenden, verklärenden, kraftvollen Siegfriedgestalt! Und dieses letzte Ideal hatte mein Bruder für das Wagnersche gehalten! Welche Täuschung! Malwida konnte sich nur erinnern, daß mein Bruder an jenem Abend außerordentlich traurig gewesen wäre und sich bald auf sein Zimmer zurückgezogen habe. Mein Bruder fühlte vorahnend, daß Wagner und er sich niemals wiedersehen würden.
(aus: Elisabeth Förster-Nietzsche: Der einsame Nietzsche, Leipzig 1914) |