Mein Leben (1870/1880)

Wagner verfasste seine Autobiographie auf den ausdrücklichen Wunsch von Ludwig II., der ihn ein Brief vom 28. Mai 1865 um eine Darstellung seines Lebens bat: "Eine unaussprechliche Freude würden Sie mir mit einer ausführliches Beschreibung Ihres Geistesganges und auch Ihres äußerlichen Lebens bereiten! - Darf ich wohl die Hoffnung nähren, diese meine Bitte dereinst erfüllt zu sehen?" Bereits wenige Wochen später begann Wagner damit, den Text Cosima zu diktieren, die anschließend auch das Manuskript erstellte. Für Wagner bedeutete die Förderung seines Schaffens durch Ludwig II. eine entscheidende Zäsur in seinem bisherigen Leben, so dass es auch ihm sinnvoll erschien, zu diesem Zeitpunkt Rückschau zu halten. Wagner hatte bereits früher an den entscheidenden Wendepunkten seines Lebens autobiographische Text geschrieben: 1843 bei seiner Rückkehr aus Paris nach Dresden die "Autobiographie Skizze", 1852 nach seiner Flucht in die Schweiz und der Entscheidung, den "Ring" in einem eigenen Theater aufzuführen, die "Mittheilung an meine Freunde". Zu Beginn des Jahres 1867 ist die Arbeit an den ersten drei Teilen von "Mein Leben" abgeschlossen. Sie decken den Zeitraum von 1813 bis 1861 ab. Nach seiner erneuten Übersiedlung in Schweiz 1868 hat Wagner die Arbeit nicht fortgesetzt. Eine Veröffentlichung lehnte Wagner zunächst noch ab. An seine Schwester Louise, die mit dem Verleger Brockhaus verheiratet war, hatte er noch im Januar 1866 geschrieben: "Natürlich ist dieses Dictat nicht für die Öffentlichkeit bestimmt: es soll nur nach meinem Tode zum wahrhaften Anhalt für denjenigen dienen, der berufen sein sollte, mein Leben der Welt zu beschreiben". Am Beginn des Jahres 1870 änderte Wagner seine Meinung und gegenüber Otto Wesendonk äußere er jetzt erstmals den Gedanken, "Mein Leben" als Privatdruck seinen engsten Freuden zur Verfügung zu stellen. Wagner beauftragte die Druckerei Bonfantini in Basel, genau 15 Exemplare zu drucken. Auf Anregung von Friedrich Nietzsche ließ Wagner ein von ihm selbst entworfenes Familienwappen auf der ersten Textseite drucken. Das Wappen zeigte einen Geier, das Wappenschild das Sternkreiszeichen "Großer Wagen", damit verwies Wagner sowohl auf seinen leiblichen Vater Carl Wagner, wie auf seinen Stiefvater Ludwig Geyer. Für Nietzsche war dieses Wappen in seiner 1888 veröffentlichten Schrift "Der Fall Wagner" Anlass, auf die ungesicherte Abstammung Wagners hinzuweisen und zu unterstellen, Wagner sei möglicherweise jüdischer Abstammung.

Die Exemplare des ersten Bandes verschenkte Wagner zu Weihnachten 1870 an Ludwig II., Franz Liszt, Marie von Schleinitz, Otto Wesendonk und Jakob Sulzer. Der zweite Band folgte 1872, der dritte Band wurde erst 1875 gedruckt. Der vierte Band, mit dem Zeitraum von 1861 bis 1864, wurde erst 1880 fertig, vermutlich erhielt Ludwig II. das einzige Exemplar. Wagner hat für letzten 19 Jahres seines Lebens keine weitere Autobiographie verfasst. Für die Spanne von 1864 bis 1868 hat er kurze Notizen erstellt, seit dem 1. Januar 1869 führte Cosima ihr Tagebuch, das Wagners Autobiographie ersetzen sollte.

Nach dem Tod  Richard Wagners forderte Cosima alle Bände von den Empfängern zurück und ließ die meisten Bände anschließend vernichten. Auch Ludwig II. händigte seine vier Bände an Cosima aus, die sie zunächst verwahrte. Später ging auch dieses Exemplar verloren, erhalten blieben nur zwei Exemplare, darunter das von Franz Liszt mit der Widmung: "Heiliger Franz! Du hast mich ganz. So nimm auch mein Leben, es sei die gegeben". Eine erste allgemein zugängliche Veröffentlichung von "Mein Leben" publizierte gegen den Willen Cosimas die irische Wagner-Verehrerin Mary Burrell 1911, der es gelungen war, die Korrekturfahnen aus dem Besitz des Verlegers zu erwerben.

Der Text von "Mein Leben" ist vor dem Hintergrund der besonderen Lebenslage Wagners in den Jahren 1865-1870 zu lesen. Als er 1865 mit dem Diktat begann, lebte er bereits mit Cosima zusammen. Die Darstellung seiner ersten gescheiterten Ehe mit Minna ist davon deutlich gefärbt, gleiches gilt für seine Beziehung zu Mathilde Wesendonk. Auch verharmloste Wagner seine Beteiligung am Aufstand in Dresden im Mai 1849, offenbar um Ludwig II., für den "Mein Leben" ursprünglich gedacht war, nicht zu verschrecken.